News Singen ohne Grenzen 19. Mai 2017

Foto_SingenohneGrenzen

Als im September 2015 die Lustenauer Flüchtlingshilfe ins Leben gerufen wurde, war für die pensionierte Gesangslehrerin Edith Hagen schnell klar, dass sie aktiv werden muss. Heute ist sie die Leiterin eines Vorzeigeprojektes und macht das, was sie am besten kann - singen. Mit von der Partie sind über 20 Frauen und Männer von jung bis alt aus sechs Nationen.

Wenn man am Dienstagnachmittag die Tür zum W*ORT öffnet, kann es sein, dass man von Schlagergröße Rocco Granata und seiner Marina begrüßt wird. Bei den Damen auf der linken Seite wird gut gelaunt zum Sopran gewippt, die Herren rechts geben stimmlich alles und legen Elan in den Refrain. "Nicht schreien" ermahnt die Chorleiterin augenzwinkernd, die Jahre lang in der Lustenauer Musikschule Gesang unterrichtet hat und jetzt ihre Pension "in vollen Zügen" genießt. Wie denn da das Ehrenamt dazu passt, fragt man sich, das nicht nur wöchentliche Proben miteinschließt, sondern auch Auftritte und oft außertourliche freundschaftliche Treffen? "Bestens, genau das ist das Salz in der Suppe. Dieser Chor hat mich unendlich viel gelehrt", kontert die lebensfrohe 63-jährige, deren Motivation für "Singen ohne Grenzen" nach einem großen Herz klingt.

Begegnen auf Augenhöhe

Foto_EdithHagen_SingenohneGrenzen Edith Hagen liebt ihre Arbeit für den "Chor ohne Grenzen", denn gemeinsames Singen baut Berührungsängste ab.

Mit den Asylwerbern Deutsch lernen, wäre auch eine Option gewesen, aber Singen ist für Edith Hagen einfach unmittelbarer, spontaner und vor allem verbindender. „Im Deutschkurs muss man Grammatik pauken, das Verhältnis ist klar vorgegeben, einer ist Lehrer, der andere eindeutig in der unwissenderen Position. Bei uns ist das Verhältnis ein vollkommen anderes, wir begegnen uns auf Augenhöhe", meint die Chorleiterin, die in der Pause von Ali aus Afghanistan dann doch Augen zwinkernd als "Chefin" bezeichnet wird. Alle Chormitglieder schätzen Edith, schwärmen im persönlichen Gespräch über die rüstige Rentnerin, die Zeit für Menschen wie Ali, Mohammad oder Fatima hat. Die Chefin ermutigt, aus sich heraus zu gehen, Neues auszuprobieren und an sich zu glauben. Zwei Sprösslinge des Chores haben es sogar schon in andere Chöre Lustenaus geschafft, worauf Edit Hagen ganz besonders stolz ist. Trotzdem soll es ein bisschen lockerer zugehen als in anderen Chören. Die Lustenauer haben gelernt, dass man als Österreicher „fast im Paradies lebt“ und die Flüchtlinge lernen ganz nebenbei unsere Sprache, Kultur und Traditionen. "Singend Deutsch lernen, war das ursprüngliche Motto unseres Chores, heute ist es viel mehr geworden, wir lernen quasi alle fürs Leben", meint eine der einheimischen Sängerinnen, Martina Eisendle.

Weiße Rosen aus Athen

Dass Singen die Seele öffnet, davon ist Edith Hagen schon lange überzeugt, dass es auch helfen kann, Traumata zu verarbeiten, hat sie in den letzten zwei Jahren oft intensiv miterlebt. "Viele bringen unglaubliche Lebensgeschichten mit, haben Schreckliches gesehen und wurden von einem Augenblick auf den anderen aus ihrem Leben gerissen, schon alleine das stelle ich mir sehr schlimm vor", beschreibt Hagen die Situation vieler ihrer Schützlinge. Das Heimweh sei bei jeder Probe spürbar gewesen und so wollte Edith Hagen vor etwa einem Jahr ein Lied finden, dass die Geflüchteten nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich berührte. Sie wurde bei Nana Mouskouri und ihren weißen Rosen aus Athen fündig. Abschied, Einsamkeit und die Hoffnung auf ein Wiedersehen prägen den Text: Im fernen Land, wo keiner auf dich wartet, da seh'n die Sterne in der Nacht ganz anders aus. Dort ist die Welt so fremd und du bist einsam... Diese zweite Strophe rührte bei einer Probe Groß und Klein, Flüchtlinge und Lustenauer zu Tränen. Auch gestandene Männer übermannte weinend das Heimweh und zum ersten Mal hatte Edith Hagen das Gefühl, dass deutsche Worte für die Neuankömmlinge eine ganz besondere Bedeutung haben. Das neue Lieblingslied des Chores war gefunden.

Augen zu und durch

Am Anfang fühlte sich Hagen vom Umgang mit den oft schwer traumatisierten Flüchtlingen überfordert, nach über 70 Chorproben, sieben Auftritten und vielen menschlich bereichernden Begegnungen ist Hagen aber dankbar für jeden Dienstag Nachmittag. Lachen und Weinen liegen dabei oft ganz nah beieinander. "Seit kurzem fangen sie sogar an, Witze auf Deutsch zu machen, sie flirten quasi mit der Sprache und das macht mir echt großen Spaß." Das Spaß Machen und Haben ist offensichtlich ansteckend. Die kleine Fatima aus Afghanistan liebt Lustenau, Edith und das Singen sowieso, das fast noch besser sei als der Sportunterricht in der Schule. Sie wickelt gerade eine Haarsträhne um ihren kleinen Finger, wie das alle Mädchen in ihrem Alter machen und will, dass man errät, welches Lied sie am liebsten singt. Auch Ruqayah aus dem Irak würde am liebsten nur dieses eine Lied von der Griechin singen, die selbst über 20 Jahre lang im Exil leben musste. Nana Mouskouri spricht den Menschen, die alles hinter sich lassen mussten, aus dem Herzen.

"In Lustenau ist der Himmel blau" ruft ein junger Mann lachend beim Vorbeigehen und rundherum wird gekichert. Edith Hagen scheint seine Meinung zu teilen, „hier gibt es wirklich viele Menschen, die sich um andere kümmern.“ Stimmt, einige davon trifft man am Dienstagnachmittag im W*ORT.

Bei Interesse an freiwilliger Flüchtlingsarbeit

Flüchtlingskoordination der Marktgemeinde Lustenau
Anya Fleischmann, DSA
Rathausstraße 1
T: +43 5577 8181-3007
anya.fleischmann@lustenau.at