News Syrien, ein zerrüttetes Land 29. Juni 2016

Vortrag Syrien mit Thomas Schmidinger

Seit fünf Jahren tobt in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg, das Ausmaß der Zerstörung ist verheerend. Nahost-Experte Thomas Schmidinger berichtete auf Einladung Lustenaus anlässlich des Weltflüchtlingstags über die Hintergründe des Syrien-Konflikts. Er näherte sich den aktuellen Entwicklungen aus historischer Perspektive, erklärte wie es vom Protest zum Bürgerkrieg kam und warum dessen Ende unabsehbar ist. Der Syrien-Krieg hat mehr als 250.000 Menschenleben gefordert und fast 12 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der Bevölkerung, zu Flüchtlingen gemacht.

Thomas Schmidinger stammt aus Feldkirch und ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Region und kennt die vielschichtige politische Situation Syriens durch zahlreiche Forschungsaufenthalte und Reisen wie kaum ein anderer.

Um den Syrien-Konflikt zu verstehen, müsse man die Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund regionaler und internationaler Machtpolitik und der komplexen ethno-konfessionellen Zusammensetzung des Landes betrachten, so Schmidinger. Er warf den Blick in die wechselhafte Geschichte Syriens und ging besonders auf unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und die vielen ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten ein.

Vielfalt von Ethnien und Religionen

Vortrag Syrien mit Thomas Schmidinger Thomas Schmidinger mit ergreifenden Ausführungen und Hintergründen zur Situation in Syrien im ausverkauften Schützengarten.

Syrien ist ein ethnisch-religiöser Fleckenteppich. Im Land leben mehrheitlich Araber. Daneben gibt es eine gespaltene kurdische Minderheit in drei Enklaven an der türkisch-irakischen Grenze, Armenier, Tscherkessen und Turkmenen.

Syrien ist auch Heimat vielfältiger Glaubensgemeinschaften, diese religiös-konfessionelle Vielfalt sei in vielfacher Hinsicht mit den Machtstrukturen verwoben, erklärte Schmidinger. Der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung stehen schiitische Minderheiten der Ismailiten, Drusen und der Alawiten, zu denen auch der Clan von Präsident Baschar al-Assad gehört, gegenüber.

Die nicht-muslimische Bevölkerung besteht vor allem aus Christen mit zahlreichen anerkannten Konfessionen. Die kleinste religiöse Minderheit bilden die Yesiden, staatenlos und über Jahrhunderte von Muslimen und Christen als Teufelsanbeter denunziert. Diese religiösen Minderheiten, deren Angehörige fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, müssten täglich um ihr Leben fürchten. Der syrische Bürgerkrieg, im Kern kein religiöser Konflikt, sei längst ein Krieg der Konfessionen, instrumentalisiert vom Baath Regime unter Assad, erklärte Schmidinger.

Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen auf allen Seiten

Seinen Anfang nahm der Konflikt im März 2011 in der Stadt Daraa während des Arabischen Frühlings. Die Verhaftung, Folter und Ermordung von Kindern brachte deren Familien auf die Straße. Die Menschen forderten mehr Freiheit und Demokratie und wehrten sich gegen die Unterdrückung und Zensur des Regimes, das Regime antwortete mit Gewalt. Aus den anfangs friedlichen Demonstrationen wurde ein komplexer Bürgerkrieg.

Zahlreiche bewaffnete Milizen und Fronten, unterstützt von den Nachbarländern und mächtigen Verbündeten aus dem Ausland, kämpfen um strategisch wichtige Städte wie Kobane, Damaskus, Aleppo und Palmyra.

Im Osten des Landes wütet der selbsternannte Islamische Staat, im Westen terrorisiert das Regime das Volk, als letzte Bastion verteidigen im Norden syrische Kurden ihre Städte und Dörfer gegen den Vormarsch des IS.

Die Infrastruktur des Landes liegt in Trümmern, die medizinische Versorgung ist weitgehend zusammengebrochen und auch politisch und militärisch werde die Lage immer verfahrener, wagte Thomas Schmidinger keine Prognose auf ein nahes Ende des Bürgerkriegs.

Auf die Frage nach einer Lösung des Konflikts sah der Experte die einzige Hoffnung auf einen Friedensprozess in einer internationalen Konferenz mit allen syrischen Beteiligten und allen ausländischen Akteuren, Dschihadisten ausgeschlossen.

Humanitäre Tragödie

Vortrag Syrien mit Thomas Schmidinger Zahlreiche Interessierte aus dem Lustenauer Netzwerk für Flüchtlinge folgten der Einladung der Marktgemeinde Lustenau zu Thomas Schmidingers Vortrag.

Thomas Schmidinger berichtete von einer katastrophalen humanitären Situation der Flüchtlinge, die er bei seinem letzten Aufenthalt in Syrien erlebt hatte. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung lebe bereits woanders, die Lage werde immer bedrohlicher, vielen fehle es am Notwendigsten zum Überleben.

Ende 2015 hatten fast 5 Millionen Menschen das zerfallende Land verlassen und wurden vor allem von Nachbarstaaten aufgenommen. Noch höher sei die Zahl der intern Vertriebenen. Geschätzte 7 Millionen Frauen, Kinder und Männer haben ihr Zuhause verloren und sind im Land verstreut. Ihnen gehe es am schlechtesten, machte Schmidinger betroffen, sie würden von der lokalen Bevölkerung durchgefüttert und hofften verzweifelt auf internationale Hilfe.

Auch die Flüchtlinge die in den Camps der Nachbarländer ausharren, seien akut von Hunger und Krankheit bedroht und zu Prostitution und Organverkauf gezwungen. Ohne Perspektive und aus Angst vor Gewalt und Verfolgung würden sich die Menschen weiterhin auf den gefährlichen und teuren Weg nach Europa machen und ihr Leben aufs Spiel setzen, sah der Nahost-Experte kein baldiges Ende der Flüchtlingsbewegung, es kämen Angehörige aller Religionsgruppen und aller ethnischen Gruppen.

Weltflüchtlingstag: Jede Minute werden 24 Menschen vertrieben

Weltweit sind 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder. Dies geht aus dem Jahresbericht von UNHCR anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni hervor. Ein trauriger Rekord: Niemals waren mehr Menschen auf der Flucht. In Relation zur Weltbevölkerungszahl ist damit jeder 113. Mensch ein Flüchtling oder anders ausgedrückt: Jede Minute werden 24 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben.

Schutz wird vor allem außerhalb Europas gesucht

Obwohl im vergangenen Jahr die Flüchtlingsaufnahme in Europa im Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit stand, zeigt der UN-Bericht, dass 90 Prozent aller Flüchtlinge Schutz außerhalb Europas finden.

In absoluten Zahlen ist die Türkei mit 2,5 Millionen Ankömmlingen der größte Aufnahmestaat. Der Libanon hat mit 183 Flüchtlingen auf 1.000 Einwohner im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Menschen aufgenommen als jedes andere Land. Insgesamt haben in dem Land so groß wie Tirol 1,1 Million Flüchtlinge Schutz gefunden, 1,2 Millionen Menschen haben 2015 in Europa um Asyl angesucht. In Lustenau leben derzeit insgesamt 250 Flüchtlinge.