News Zum Kriegsende vor 80 Jahren 6. Mai 2025
In diesem Artikel gibt Oliver Heinzle vom Historischen Archiv Augenzeugenberichte zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 wieder. Das Historische Archiv der Marktgemeinde verwahrt fünf handgeschriebene Erinnerungshefte des Lustenauers Alfons Tagwerker (* 1893, + 1973), in denen er sein Leben, darunter die Zeitgeschehnisse rund um das Ende des Zweiten Weltkrieges dokumentiert.
Schon vor vielen Jahren hat Robert Tagwerker (+ 2004), langjähriger Chronist der Schützengilde Lustenau, dem Gemeindearchiv viel interessantes Material übergeben. Darunter befinden sich auch fünf, von seinem Vater verfasste, handgeschriebene Erinnerungshefte. Darin schildert Alfons Tagwerker (* 1893, + 1973) seine jahrzehntelange Tätigkeit als Zöllner, seine Kriegserlebnisse im Ersten Weltkrieg, seinen Einsatz beim Volkssturm sowie die Anfangsphase der Besatzungszeit in Lustenau.

© Historisches Archiv, Quelle: Norbert Bösch
Vermutlich wurden die „Erinnerungen an den Einzug der alliierten Truppen in Lustenau [im] Mai 1945“ relativ zeitnah abgefasst. Die veröffentlichten Auszüge daraus sollen mit Fokus auf Lustenau daran erinnern, dass sich das Ende des Zweiten Weltkrieges, welcher mit grenzenlosem Leid, Genozid und Massenmord einherging, in diesen Tagen zum 80. Mal jährt.
Die unter dem 1. Mai 1945 abgefassten Schilderungen von Alfons Tagwerker zeigen die verzweifelte Lage seiner Familie und der hiesigen Bevölkerung einen Tag vor dem Einmarsch der französischen Truppen. Alfons Tagwerker war damals gerade mit vielen anderen älteren Lustenauern von einem „Grenzsicherungseinsatz“ – Stichwort Alpenfestung – des Volkssturmes bzw. der Standschützen in Sulzberg heil zurückgekommen. Die Rechtschreibung wurde größtenteils behutsam den heute gebräuchlichen Regeln angepasst.

© Hannes Grabher

„Nach achttägigem harten Lager bei den Standschützen in Sulzberg wieder einmal im guten Bette zu liegen ist eine wahre Wonne, ich habe die die gute Absicht, mich wieder einmal gehörig auszuschlafen. Jedoch ist es sehr unruhig in der Nacht. Man hört fortdauernd Fliegergeräusche. Während des Tages wieder viele alliierte Flieger, die tief fliegen u. beobachten, es ist unheimlich, man weiß nie, was sie für Absichten haben, man versteckt sich so gut wie möglich gegen Fliegersicht.

Die Leute sind alle sehr aufgeregt, einerseits will alles noch einkaufen, es wird Käse, Tee, Wein, Reis u. Öl ausgegeben. Auch Butter soll es geben. Mama, Erna und ich teilen uns im einholen u. anstehen, den[n] ganze Menschenschlangen stehen vor den Lebensmittelgeschäften. Erhalten […] Reis, […] Käse, […] Zucker, […] Öl, […] Wein, u. noch andere Waren. Mama war auf der Kartenstelle, bekam aber für mich noch keine [Lebensmittelkarten], sodass ich mich sofort in die Kanzlei der [Standschützenkompanie Lustenau] begab, wo ich auch meine [Lebensmittelkarten] erhielt, gottseidank, wieder eine Sorge weniger, rasch noch holen [wir] im Laden, was es mir auf meine Karten trifft, wer weiß, wann wir wieder Lebensmittel erhalten werden, es ist alles drunter u. drüber.
Daheim packen wir in unseren Koffer die notwendigsten [Wertsachen], schnüren mit betrübter Miene noch alles zu, was wir da lassen müssen falls es zu einer Beschießung kommt, wir haben doch seit 18 Jahren alles mühsam verdienen u. anschaffen müssen u. wenn es schlimmer kommt, kann alles vernichtet sein in ein paar Minuten, Wohnung kaput[t], wir selber können notfalls mit Bewilligung der Schweizer Behörden auf einige Tage über den Rhein Zuflucht nehmen. Auch weiß man ja nicht, ob nicht die einmarschierenden Truppen vielleicht noch alles zerstören […], den[n] die schwarzen Soldaten sollen bös hausen, gar, wenn sie sehen, dass sie freie Hand haben u. ihnen alles erlaubt ist. Ja, das waren böse Stunden für uns.

© Hannes Grabher
Man lebte tatsächlich nur von Stunde zu Stunde noch, nie wissend was am Abend noch lebt oder ganz ist. In der Brückenmitte b. [Zollamt] Rheindorf stehen viele Leute […], ebenso schweizerseits […] hunderte Menschen, man sieht sehr gut die Einschläge der Granaten in Bregenz, traurige Stunden, u. was wird noch alles kommen? Es sollen schon die Brücken u. teilweise die Bahnstrecken von der SS gesprengt worden sein, ebenso hört man Detonationen von Sprengungen. In Lustenau hängen die Häuser [sic] mit weißen Tüchern u. Leintücher zum Zeichen der freiwilligen Übergabe. Eine Deputation v. beherzten Männern mit dem Bürgermeister (Oskar Alge) soll den anmarschierenden alliierten Truppen entgegengefahren sein u. bitten um Schonung der Gemeinde u. bieten freiwillige Übergabe an.“
Am 2. Mai 1945 marschierten alliierte Truppen kampflos in Lustenau ein. Damit war in Lustenau der Zweite Weltkrieg schon rund eine Woche vor der endgültigen bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands zu Ende.

„Ich melde mich wieder zum Dienst. Die Grenze nach der Schweiz ist ja gesperrt, doch drüben am Zollamt haben fast alle Schweizer Zollbeamten Wacht oder Bereitschaft, denn sobald Lustenau beschossen würde, dürfen die Frauen u. Kinder mit dem notwendigen Gepäck über den Rhein, wo scheinbar für alle Fälle schon Notlager u. Feldküchen bereitgestellt sein sollen. Dies ist eine herrliche, unvergessliche Tat der lieben Grenznachbarn, welches sich jeder, der heute in dieser schweren Lage ist, unvergesslich bleiben wird u. daher auch beruhigend wirkt auf die Bevölkerung v. Lustenau.
Erfahre, dass von einem Lastzug [am Bahnhof] von 1 Waggon hunderte Pakete ausgeladen u. beim Standschützenlokal u. im Schulhaus zur Verteilung kommen. Beim Standschützenlokal stehen schon eine Unmenge Menschen, jeder will Pakete holen. Es bekommt fast jeder entweder 1 größeres oder 2 kl. Pakete. Auch ich erhalte 2 Pakte noch mit Glück. Der Inhalt ist: gebr. Pullover, Wäsche, 1 paar alte Schuhe, im andern Reis, Zwieback, Briefpapier, etwas Tabak, Arzneiwaren u. etwas Schokolade.
Nachmittags erfahre ich auf dem Wege, dass im Schulhaus auch Pakete ausgegeben werden, versuche dort mein Glück, aber der Schuldiener will mir vor der Nase noch die Türe absperren, es sei für heute schon Schluss. Mit viel Mühe erreiche ich doch noch, dass er mich hineinlässt. Im Turnsaal liegt ein Berg von Pakten. Lehrer Ziganek, welcher Verteiler ist, gibt mir, weil wir zusammen am Sulzberg [beim Volkssturm] waren […] 3 Pakete: Habe große Freude. Mama erwartete mich vor dem Schulhaus: auch sie freute sich. Rasch ging es heim, in Erwartung, was wird der Inhalt sein? Die Öffnung ergab: Reis, ca. 3 ½ Kg, Hörnle ¾ Kg, Mehl, Zwieback, Weißbrot, Kuchen, Schokolade 3 Tafeln.
Habe ab 17 h wieder Dienst an der Brücke, doch ist man mehr im Amte, um Neues zu erfahren. Die anmarschierenden alliierten Truppen sollen schon mit Autos die Reichsstraße in Lustenau durchfahren, alle Leute seien auf der Straße, die Truppen sollen sehr freundlich sein u. Kindern Bonbons geben. Flieger in Maßen in Richtung gegen das Oberland. Sonst alles ruhig abgelaufen, Gott sei Dank. Wir wollen das Beste für die weitere Zukunft erhoffen.“
Die unter dem 3. und 4. Mai 1945 abgefassten Schilderungen – hier behutsam der heutigen Rechtschreibung angepasst – dokumentieren die ersten, manchmal recht verstörenden Kontakte mit den Besatzungssoldaten:
„Mache mit Rossi Dienst an der Brücke von 12-19 h. Nachmittags fährt schon das 1. Auto mit franz. Offizieren an die Brücke vor: Wir salutieren, sie grüßen, sehen nach der Schweiz hinüber u. fahren wieder ab. Gleich darauf marschieren schon ca. 1 Komp. franz. Soldaten, in der Mehrzahl Neger von der Augartenstraße kommend, z. Zollamt Rheindorf, wo sie Gewehr Pyramiden ansetzen. 1 Unt. Offiz. marschiert mit ca. 20 schwarzen Soldaten z. Brücke u. besetzt die Grenzübergangsstelle. […] Jene Soldaten, welche noch keinen Dienst haben, fangen an sich zu rasieren, die andern legen sich am Boden u. schlafen, gerade wo es ihnen passt. Natürlich sind sofort ein Haufen von Kindern am Amtsplatze, welche befremdet diese neuen Soldaten in ihren malerischen Kaki Uniformen betrachten u. allmählich zutraulicher werden u. schon betteln sie um Schokolade.

© Historisches Archiv, Quelle: Gerhard Bayer

© Historisches Archiv
[…] Um 9 Uhr vorm. kommt ein höherer Unteroffizier u. besichtigt die Wohnungen beim Za. [Zollamt] Rheindorf. An die Wohnungstüre schreibt er mit Kreide etwas hin u. gleich darauf bekommen wir 3 Soldaten z. Einquartierung. Wir stellen ins Wohnzimmer noch das Bett von Erna hin, sodass die drei Soldaten jeder ein Bett haben […]. Aber wie sieht es darauf im Wohnzimmer aus, o Graus, Helme, Gewehre, Handgranaten, Koppel, Patronen, Feldstecher, Essgeschirr alles auf dem Tisch, am Schreibtisch, am Boden hingeworfen, Zigarettenreste am Boden, Stiefel, Fußfetzen liegen herum.
Die Kerle liegen samt der dreckigen Uniform ins Bett, Mama wird Angst und Bange, aber um Gotteswillen schweigen u. ja nichts sagen oder gar böse Miene machen, sonst wird es noch schlimmer. […] Abends 11 h gehen wir drei schlafen, sperren halt das Schlafzimmer ab, sonst aber ist das Wohnzimmer [und die] Küche, d. h. die Wohnung offen. Die ganze Nacht ein Kommen u. Gehen u. Ablösen, mancher klopft sogar noch an der Schlafzimmertüre u. will mit Gewalt herein, bis ich ihnen sage, das sei unser Schlafzimmer. […]“